Eigentlich muss man gar nicht die Abteilung der (Kunst-)Drucke bemühen, um bei der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg an ein Museum zu denken. Die Bibliothek selbst gleicht einem Musentempel, wie es ihn bei uns für die wissenschaftliche Arbeit nur noch selten gibt. Mich führte die Recherche für ein neues Ausstellungsprojekt in die heiligen Hallen, in denen ich vor 20 Jahren schon einmal für meine Doktorarbeit recherchiert hatte.
Wie so oft in Russland, hat sich seitdem nicht und alles verändert, was so viel heißen soll, dass man ständig von einem Extrem in das andere gerät – zwischen Freud und Leid der Errungenschaften moderner Technik und der Globalisierung und den überkommenen, sowjetischen Gepflogenheiten. Zunächst gilt es, die zeitlosen Hürden der russischen Bürokratie zu überwinden. Meine Anfrage, die ich problemlos per Email stellen konnte, wurde mit den Hinweis beschieden, nichts gehe ohne einen gültigen Benutzerausweis, der natürlich nur vor Ort zu bekommen ist. Danach sehe man weiter. Ich stelle mich also mutig der Empfangsdame und lege ihr, um sie milde zu stimmen, meinen Ausweis von 1994 mit diversen Stempeln und handschriftlichen Eintragungen vor. Tatsächlich bringt sie das zum Lächeln, sie schaut mich lange an und meint schließlich, dass sie mich sogar wiedererkennt. Mir wird ganz warm ums Herz. Trotzdem ist die Zeit auch über diesen Ausweis hinweggegangen und es folgt die übliche Prozedur jeder Bibliothek: Ich muss ein Formular ausfüllen, ein Digitalfoto wird erstellt und ich erhalte einen neuen Ausweis mit, eine russische Besonderheit, dem Vermerk „Ausländerin mit höherer Bildung“. Nachdem ich noch die nicht weniger heikle Herausforderung der Garderobendamen überwunden habe, bin ich drin.
Ich muss, wie gesagt, in die Abteilung historischer und künstlerischer Produktionen, der Отделение эстампов. Dorthin führt mich ein langer Gang, ausgelegt mit einem dicken Teppich, die Wände holzgetäfelt, behängt mit den ehrwürdigen Portraits früherer Bibliothekare und verdienter Wissenschaftler. Mehrfach zweigt der Weg in labyrinthartige Gänge ab, Hinweisschilder gibt es keine, gelegentlich eine Vitrine mit Rara und alten Drucken. Es ist angemessen still, mir begegnen Leser und Leserinnen, tief versunken in ihre Gedanken mit Büchern und gebundenen Mappen unter dem Arm, Computer scheinen hier nicht her zu passen. Zeichen unserer aller Verbundenheit über nationale, Alters- und Bildungsgrenzen hinweg ist der Laufzettel, den wir alle zusammen mit unserem Ausweis bei uns tragen und der allein, bestempelt durch eine autorisierte Abteilung, bei der wir nachweislich vorstellig wurden, uns den freien Ausgang vorbei an der Polizeiwache garantiert.
Eine breite, marmorne Treppe, gesäumt mit verwitterten Steintafeln mit lateinischen, hebräischen, glagolitischen und griechischen Inschriften endet schließlich in einer schummrig beleuchteten Vorhalle, eingerahmt durch zweistöckige Bücherregale, deren Empore durch gewundene Wendeltreppen erreichbar wären, wenn sie nicht für den normal Sterblichen durch eine dicke rote Kordel abgesperrt wären. Große und schwere Vitrinen beherbergen eine Ausstellung über die Geschichte der Körperkultur, sprich: Sport, in Grafik, Literatur und Presse. In der Mitte thront die diensthabende Aufsicht, die дежурная, und schaut mich prüfend über ihre Brille hinweg an. Eine gewisse Erleichterung macht sich breit, als ich sie auf russisch frage, wo die gewünschte Abteilung sich befindet. Ohne Worte weist sie mir den Weg, absurd geradezu die Vorstellung, dass man bis hierhin gekommen ist, und den Weg nicht kennt.
Noch eine Halle ist zu durchqueren, eine Flügeltür zu stemmen und vor mir liegt erneut ein langer Gang, wiederum mit Teppich belegt und gerahmt von zweistöckigen Regalen und Vitrinen. Ehrfurchtsvoll schreite ich diese ab und bewundere Stiche, Leporellos, Postkarten, Kinderbücher, Karten und viele weitere Schätze. Am Ende wartet, hinter einem hohen Tresen, die nächste Aufsicht. Die Versuche, ihr mein Anliegen zu erklären, nämlich die Sammlung von Originalfotos aus dem 19. Jh. zu sehen, scheitern bis auf weiteres. Wie vermutet, ist meine schriftliche Anfrage niemals bis in den Lesesaal durchgedrungen. Es folgt, was folgen muss: Ich fülle eine handschriftliche Anfrage an die Bibliothekarin aus, der Fall ist kompliziert, also bestenfalls in einer Woche ist mit einer Antwort zu rechnen. Ich zeige mich ergeben und kündige doch an, in zwei Tagen noch einmal vorbeizuschauen, es geschehen ja auch Wunder.
So geschieht es, ich durchwandere abermals die Gänge und stehe ohne viel Hoffnung vor dem Tresen. Dieses Mal händigt man mir mehrere Bildbände aus, in denen eben jene Fotosammlung partiell publiziert sind. Es waren jene Kataloge, die mich in den Berliner Bibliotheken auf die Spur der Sammlung gebracht und den Wunsch geweckt haben, aus der Originalsammlung Exponate für unsere Ausstellung auszuwählen. Jetzt hilft nur noch eins, ich muss zur Chefin der Abteilung durchdringen. Ein paar Telefonate bescheren mir die persönliche Mailadresse, kurz darauf habe ich eine freundliche Einladung, die für mich seit langem bereit liegende Sammlung zu sehen.
Und so verläuft mein dritter Besuch nicht nur problemlos, sondern sehr erfolgreich: Neben den Fotos bekomme ich originale Plakate, Kunstbücher und vieles mehr zu sehen einschließlich einer Fotoerlaubnis und professionellen Betreuung. Man habe schon auf mich gewartet, meine Anfrage liege ja vor, nur im Lesesaal, habe man davon offenbar nichts gewusst, erklärt sie mir in ihrem Büro, das nur durch eine Tür vom Lesesaal getrennt ist. Aber ich bin natürlich auch selber schuld: Meine ersten Besuche fielen in die abendlichen Öffnungszeiten der Bibliothek, in denen Rückfragen an die Leitung nicht möglich sind und originale Sammlungen sind eben nicht mit gewöhnlichen Büchern und Veröffentlichungen zu vergleichen, die in den anderen zahllosen Lesesälen und Abteilungen an die Leser ausgegeben werden. Ich hätte es wissen müssen nach meinen Recherchen in der Handschriften-Abteilung anno 1994/95. Vieles hat sich seitdem verändert, manches aber eben auch nicht. Heute funktioniert die Heizung zuverlässig, das Buffet hat mehrere Essen zur Auswahl, es gibt ein WiFi-Netz und eine im Prinzip frei zugängliche Kopierstelle. Irgendwie bin ich aber trotzdem froh, dass russische Bibliotheken eben doch noch eine Herausforderung bleiben und kann nur jedem empfehlen, die russische Fachliteratur stärker zu berücksichtigen.